Foto: Dörte Boxberg
Der lange Weg ein würdiges Gedenken gegen Rassismus zu erkämpfen
Initiative Herkesin Meydanı - Platz für Alle, Januar 2022
Der Rat der Stadt Köln hat Ende letzten Jahres endlich den Weg freigemacht, gegenüber der Straße, wo 2004 die Nagelbombe des NSU explodierte, ein Mahnmal zu errichten. Bei dem Terror-Akt waren zahlreiche Menschen schwer verletzt worden. Bereits 2001 war bei einem Nazi-Anschlag in der Kölner Probsteigasse die Tochter eines Einzelhändlers schwer verletzt worden. Das Motiv: Rassismus. Neun Jahre lang waren die Vermutungen der Betroffenen, dass die Bombenleger Nazis gewesen sein müssen und ihre Beschwerden über die Täter-Opfer-Umkehr, nicht gehört worden. So zogen sie es vor, zu schweigen. Erst nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 gründeten einige von ihnen gemeinsam mit solidarischen Menschen die Initiative „Keupstraße ist überall“. Zuvor hatten Bewohner*innen der Straße, ermutigt von der Initiative „Dostuk Sinemasi“, bei einer antirassistischen Filmreihe erstmals öffentlich darüber berichtet, wie der Angriff der Naziterrorist*innen seine ganze Zerstörungsgewalt erst durch die „zweite Bombe“, nämlich durch die Polizeiermittlungen und die mediale Hetze, entfalten konnte. In den folgenden Jahren fanden auch andere Betroffene rassistischer Gewalt den Mut, über ihre Erfahrungen und ihre Geschichte zu sprechen. Seitdem fordern sie gemeinsam Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit, politische Konsequenzen.
Nach der Selbstenttarnung des NSU Ende 2011 wurde in Köln erstmals die Forderung nach einem Gedenkort in direkter Nachbarschaft zur Keupstraße laut. Im Dezember 2015 beschloss der Rat der Stadt, „in der Keupstraße beziehungsweise in ihrer unmittelbaren Nähe ein Denkmal zu errichten“ und lobte ein künstlerisches Wettbewerbsverfahren zur Findung eines geeigneten Entwurfs aus. Schließlich einigte sich die Jury, darunter auch Bewohner*innen der Keupstraße, Betroffene der Bombenanschläge und Stadtteilinitiativen einvernehmlich auf den Entwurf des Berliner Künstlers Ulf Aminde für einen interaktiven Gedenkort, der an eben jener Ecke Keupstraße/Schanzenstraße entstehen soll. Doch was so hoffungsvoll begann, geriet alsbald ins Stocken. Die Eigentümer des Geländes wollten davon nichts wissen und auf dem Gelände ein Geschäftszentrum errichten, ein lukratives Investment in einem besonders von Gentrifizierung bedrohten Stadtteil. Mit dem lapidaren Verweis, dass der gewünschte Standort Privateigentum sei und die Kommune somit keine Handlungsmöglichkeiten habe, stahlen sich die Kölner Politiker*innen und die Verwaltung lange aus der Verantwortung für die Umsetzung des Ratsbeschlusses von 2015. Es dauerte weitere sechs Jahre, bis zum Ratsbeschluss am Jahrestag der Reichspogromnacht 2021.
Nach dem Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ 2017 in Köln hatte die Kölner Ortsgruppe das Mahnmal zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht. Gemeinsam mit der Interessengemeinschaft Keupstraße und der Initiative „Keupstraße ist überall“ lud sie den Sprecher der Investorengruppe im März 2018 zu einer Podiumsdiskussion mit dem Pädagogen und Publizisten Micha Brumlik und dem Künstler Ulf Aminde ins VHS-Forum im Rautenstrauch-Joest-Museum. Weil die Eigentümer absagten, blieben die Befürworter des Mahnmals unter sich und so fiel der öffentliche Streit aus. Im Jahr darauf initiierte Aminde gemeinsam mit anderen Künstler*innen und Kulturschaffenden aus dem In- und Ausland einen Offenen Brief an Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Doch der Appel blieb ungehört. Im Sommer 2019 gelang Aminde gemeinsam mit der neu gegründeten Initiative „Herkesin Meydani - Platz für Alle“ schließlich doch ein Coup, als der Künstler eine unscheinbare, hell beschichtete Holzplatte im Foyer des Museums Ludwig ausstellte. Bei der Präsentation des Modells des Mahnmals im Maßstab 1:10 kam es zu einem erbitterten Wortgefecht zwischen Vertreter:innen der Initiative, dem Künstler und einem Reporter des Kölner Stadtanzeigers. Am Tag darauf war die Kontroverse ausführlich in der Zeitung nachzulesen. Auch andere Medien berichteten über das Ereignis. Das Mahnmal sei kein Geschenk für die Bewohner*innen der Straße, sondern für unsere Stadt, die ganze Gesellschaft, zitierte der Stadtanzeiger Mitat Özdemir von der Initiative „Herkesin Meydani“. Er forderte die Stadtspitze auf, die Angelegenheit endlich zur Chefinnensache zu machen.
Kurz darauf lancierte die Initiative einen weiteren Offenen Brief an die Oberbürgermeisterin, den viele Initiativen und Einzelpersonen unterzeichneten: „Statt das Mahnmal mit Nachdruck und Engagement an dem ursprünglich vorgesehenen und von den Betroffenen geforderten Platz zu realisieren, gibt es einen Kniefall vor den Investoren“, hieß es darin. Die Stadtverwaltung habe Spielräume, den Gedenkort an der Keupstraße zu realisieren und sie möge diese endlich nutzen. Die Unterzeichner*innen unterstützten die Forderung der Initiative nach einem Bebauungsplan, der den „Platz für alle“ an der Keupstraße/Ecke Schanzenstraße als Standort für das Mahnmal festschreiben sollte. Im Falle eines Verkaufs möge die Stadt ihr Vorkaufsrecht geltend machen und die für den Gedenkort notwendige Fläche erwerben. Diese realpolitischen Vorschläge wurden in der Öffentlichkeit tatsächlich wahrgenommen und ließen die Stadtspitze schlecht aussehen. So geriet die Verwaltung erstmals unter Druck, weil der Kern des Konflikts offen auf dem Tisch lag, wonach private Interessen gegenüber dem öffentlichen Interesse nach einem Statement der Stadtgesellschaft gegen Rassismus Vorrang eingeräumt wird. Am Jahrestag des Nagelbombenanschlags 2020 berichtete Meral Sahin vor über 600 überraschten Zuhörer*innen auf der jährlichen Gedenkkundgebung an der Keupstraße, Oberbürgermeisterin Reker habe ihr versichert, dass die Stadt das Grundstück gegenüber der Keupstraße erwerben wolle, um das Mahnmal zu bauen. Das war eine sensationelle Wende gegenüber der bisherigen Haltung der Stadtspitze.
Jetzt war der Zeitpunkt günstig, den Druck auf die Stadt zu erhöhen. Die große Empörung über den Anschlag von Hanau und die Massendemonstrationen von Black Lives Matter ließen die Hoffnung aufkeimen, dass nun endlich mehr Menschen in Köln für das Mahnmal auf die Straße gehen würden. Deshalb organisierte "Herkesin Meydani" gemeinsam mit anderen Gruppen vom Sommer bis zum Herbst 2020 regelmäßige Live-acts gegen Rassismus an der Keupstraße, um den Ort schon jetzt zu einem Platz für Alle zu machen. Namhafte Künstler*innen, wie Esther Dischereit, Dogan Akhanli, Henning May, Tice, Ester Bejerano und Microphone Mafia sowie Fatih Çevikkollu traten dort auf. So blieb das Thema vor der Kommunalwahl 2020 im Gespräch. Aus gut unterrichteten Kreisen erfuhr die Initiative wenig später, dass die Eigentümer des umkämpften Grundstücks in Verkaufsverhandlungen mit der Düsseldorfer Gentes Gruppe stünden. Für diese Insiderinformation interessierten sich nun auch der Kölner Express, der schon über den Konflikt berichtet hatte. Ein Anruf eines Reporters veranlasste das OB-Büro, aktiv zu werden. Schließlich stand die Behauptung im Raum, Henriette Reker, die kurz vor der Stichwahl stand, habe ihr Versprechen gegenüber der IG Keupstraße gebrochen, das Gelände zu kaufen. Sie beraumte eilig eine Besprechung mit Vertreter*innen von Initiativen an, bei der Reker die Verwirklichung des Mahnmals am gewünschten Ort zusagte. Doch in der anschließenden Pressemitteilung war davon keine Rede mehr. Dann passierte erstmal nichts.
Aus der Presse war Anfang Dezember 2020 zu erfahren, dass die neue Eigentümerin, die „Gentes Gruppe“ eine Bauvoranfrage für einen konkreten Entwurf für das Mahnmal zur Abstimmung in die Bezirksvertretung Mülheim vorlegen würde. Das Mahnmal soll demnach am vorgesehenen Platz gegenüber dem Eingang zur Keupstraße entstehen, auf 576 Quadratmetern. Ganz offensichtlich sollte im Eiltempo und ohne Einbeziehung der Öffentlichkeit etwas beschlossen werden, um den Konflikt, der immer höhere Wellen schlug, vom Tisch zu bekommen. Es war ein Kompromiss. Allerdings spiegelt er die politischen Kräfteverhältnisse in der Stadt wider, in der die Partikularinteressen von Investoren Vorrang haben.
Die Erinnerungspolitik in der postmigrantischen Gesellschaft lebt davon, dass viele Menschen sich auf eine Debatte über Rassismus einlassen. Es ist ersichtlich, dass sich die Betroffenen von rassistischer Gewalt die Erinnerung selbst aneignen müssen und dabei auf solidarische Menschen in der Stadtgesellschaft angewiesen sind. Der Platz an der Keupstraße, an dem das Mahnmal entstehen wird, ist schon jetzt ein wichtiger Treffpunkt für die antirassistische und antifaschistische Szene Kölns. So wird die offizielle Erinnerungskultur von einer sehr aktiven migrantischen, antirassistischen und antifaschistischen Minderheit herausgefordert.
„Meine beiden Kinder sind in Deutschland geboren“, sagt der Kuaför von der Keupstraße. „Sie werden hier ihr Leben leben. Ich hoffe, dass ihnen so etwas nie passieren wird und wenn dies der Fall ist, sollte niemand mit Vorurteilen konfrontiert werden! Ich möchte nicht als Mafiosi oder Terrorist angesehen werden. Was das Denkmal betrifft, denke ich, dass es eine gute Sache ist. Vergesst nicht! Es soll immer im Gedächtnis bleiben, es soll ein Fragezeichen sein! Die nächste Generation muss ihre Rechte einfordern! Wir hatten niemanden, der uns am Arm hielt und unterstützte!“
Wie nah Vergessen und Erinnern beieinander liegen zeigt die Situation der Jugendlichen im dem Viertel, die nach dem Anschlag geboren wurden. Sozialarbeiter*innen berichten, dass sie nichts über den NSU wussten und erst durch ein Erinnerungsprojekt in der Jugendeinrichtung davon erfuhren. In den Schulen sei der NSU kein Thema. Insofern kann das virtuelle Archiv über die Geschichte der Straße und die Kämpfe gegen Rassismus, das am Mahnmal vom Smartphone abrufbar sein wird, diese Lücke füllen und so eine emanzipatorische Wirkung entfalten. Das Mahnmal bietet nun die Chance, der jahrelangen Stigmatisierung der Keupstraße zumindest symbolisch etwas entgegenzusetzen. Es ist nämlich zu bezweifeln, dass die Gesellschaft wirklich die Lektion verstanden hat. Denn die angeeigneten Orte, wo Menschen arbeiten oder sich einfach treffen, die als die anderen wahrgenommen und stigmatisiert werden, werden immer wieder angegriffen, zuletzt in Halle und Hanau. Trotzdem macht dieser kleine Erfolg im Kampf gegen Rassismus Mut oder wie Mitat Özdemir aus der Keupstraße sagt: “Das Mahnmal wird unser Symbol sein. Ich habe einen Traum, über den ich hier immer gesprochen habe. Dieses Denkmal muss kommen und es wird Menschen geben, die eines Tages Busse mieten, um es hier besuchen zu können.“
Foto: Dörte Boxberg
Der lange Weg ein würdiges Gedenken gegen Rassismus zu erkämpfen
Initiative Herkesin Meydanı - Platz für Alle, Januar 2022
Der Rat der Stadt Köln hat Ende letzten Jahres endlich den Weg freigemacht, gegenüber der Straße, wo 2004 die Nagelbombe des NSU explodierte, ein Mahnmal zu errichten. Bei dem Terror-Akt waren zahlreiche Menschen schwer verletzt worden. Bereits 2001 war bei einem Nazi-Anschlag in der Kölner Probsteigasse die Tochter eines Einzelhändlers schwer verletzt worden. Das Motiv: Rassismus. Neun Jahre lang waren die Vermutungen der Betroffenen, dass die Bombenleger Nazis gewesen sein müssen und ihre Beschwerden über die Täter-Opfer-Umkehr, nicht gehört worden. So zogen sie es vor, zu schweigen. Erst nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 gründeten einige von ihnen gemeinsam mit solidarischen Menschen die Initiative „Keupstraße ist überall“. Zuvor hatten Bewohner*innen der Straße, ermutigt von der Initiative „Dostuk Sinemasi“, bei einer antirassistischen Filmreihe erstmals öffentlich darüber berichtet, wie der Angriff der Naziterrorist*innen seine ganze Zerstörungsgewalt erst durch die „zweite Bombe“, nämlich durch die Polizeiermittlungen und die mediale Hetze, entfalten konnte. In den folgenden Jahren fanden auch andere Betroffene rassistischer Gewalt den Mut, über ihre Erfahrungen und ihre Geschichte zu sprechen. Seitdem fordern sie gemeinsam Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit, politische Konsequenzen.
Nach der Selbstenttarnung des NSU Ende 2011 wurde in Köln erstmals die Forderung nach einem Gedenkort in direkter Nachbarschaft zur Keupstraße laut. Im Dezember 2015 beschloss der Rat der Stadt, „in der Keupstraße beziehungsweise in ihrer unmittelbaren Nähe ein Denkmal zu errichten“ und lobte ein künstlerisches Wettbewerbsverfahren zur Findung eines geeigneten Entwurfs aus. Schließlich einigte sich die Jury, darunter auch Bewohner*innen der Keupstraße, Betroffene der Bombenanschläge und Stadtteilinitiativen einvernehmlich auf den Entwurf des Berliner Künstlers Ulf Aminde für einen interaktiven Gedenkort, der an eben jener Ecke Keupstraße/Schanzenstraße entstehen soll. Doch was so hoffungsvoll begann, geriet alsbald ins Stocken. Die Eigentümer des Geländes wollten davon nichts wissen und auf dem Gelände ein Geschäftszentrum errichten, ein lukratives Investment in einem besonders von Gentrifizierung bedrohten Stadtteil. Mit dem lapidaren Verweis, dass der gewünschte Standort Privateigentum sei und die Kommune somit keine Handlungsmöglichkeiten habe, stahlen sich die Kölner Politiker*innen und die Verwaltung lange aus der Verantwortung für die Umsetzung des Ratsbeschlusses von 2015. Es dauerte weitere sechs Jahre, bis zum Ratsbeschluss am Jahrestag der Reichspogromnacht 2021.
Nach dem Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ 2017 in Köln hatte die Kölner Ortsgruppe das Mahnmal zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht. Gemeinsam mit der Interessengemeinschaft Keupstraße und der Initiative „Keupstraße ist überall“ lud sie den Sprecher der Investorengruppe im März 2018 zu einer Podiumsdiskussion mit dem Pädagogen und Publizisten Micha Brumlik und dem Künstler Ulf Aminde ins VHS-Forum im Rautenstrauch-Joest-Museum. Weil die Eigentümer absagten, blieben die Befürworter des Mahnmals unter sich und so fiel der öffentliche Streit aus. Im Jahr darauf initiierte Aminde gemeinsam mit anderen Künstler*innen und Kulturschaffenden aus dem In- und Ausland einen Offenen Brief an Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Doch der Appel blieb ungehört. Im Sommer 2019 gelang Aminde gemeinsam mit der neu gegründeten Initiative „Herkesin Meydani - Platz für Alle“ schließlich doch ein Coup, als der Künstler eine unscheinbare, hell beschichtete Holzplatte im Foyer des Museums Ludwig ausstellte. Bei der Präsentation des Modells des Mahnmals im Maßstab 1:10 kam es zu einem erbitterten Wortgefecht zwischen Vertreter:innen der Initiative, dem Künstler und einem Reporter des Kölner Stadtanzeigers. Am Tag darauf war die Kontroverse ausführlich in der Zeitung nachzulesen. Auch andere Medien berichteten über das Ereignis. Das Mahnmal sei kein Geschenk für die Bewohner*innen der Straße, sondern für unsere Stadt, die ganze Gesellschaft, zitierte der Stadtanzeiger Mitat Özdemir von der Initiative „Herkesin Meydani“. Er forderte die Stadtspitze auf, die Angelegenheit endlich zur Chefinnensache zu machen.
Kurz darauf lancierte die Initiative einen weiteren Offenen Brief an die Oberbürgermeisterin, den viele Initiativen und Einzelpersonen unterzeichneten: „Statt das Mahnmal mit Nachdruck und Engagement an dem ursprünglich vorgesehenen und von den Betroffenen geforderten Platz zu realisieren, gibt es einen Kniefall vor den Investoren“, hieß es darin. Die Stadtverwaltung habe Spielräume, den Gedenkort an der Keupstraße zu realisieren und sie möge diese endlich nutzen. Die Unterzeichner*innen unterstützten die Forderung der Initiative nach einem Bebauungsplan, der den „Platz für alle“ an der Keupstraße/Ecke Schanzenstraße als Standort für das Mahnmal festschreiben sollte. Im Falle eines Verkaufs möge die Stadt ihr Vorkaufsrecht geltend machen und die für den Gedenkort notwendige Fläche erwerben. Diese realpolitischen Vorschläge wurden in der Öffentlichkeit tatsächlich wahrgenommen und ließen die Stadtspitze schlecht aussehen. So geriet die Verwaltung erstmals unter Druck, weil der Kern des Konflikts offen auf dem Tisch lag, wonach private Interessen gegenüber dem öffentlichen Interesse nach einem Statement der Stadtgesellschaft gegen Rassismus Vorrang eingeräumt wird. Am Jahrestag des Nagelbombenanschlags 2020 berichtete Meral Sahin vor über 600 überraschten Zuhörer*innen auf der jährlichen Gedenkkundgebung an der Keupstraße, Oberbürgermeisterin Reker habe ihr versichert, dass die Stadt das Grundstück gegenüber der Keupstraße erwerben wolle, um das Mahnmal zu bauen. Das war eine sensationelle Wende gegenüber der bisherigen Haltung der Stadtspitze.
Jetzt war der Zeitpunkt günstig, den Druck auf die Stadt zu erhöhen. Die große Empörung über den Anschlag von Hanau und die Massendemonstrationen von Black Lives Matter ließen die Hoffnung aufkeimen, dass nun endlich mehr Menschen in Köln für das Mahnmal auf die Straße gehen würden. Deshalb organisierte "Herkesin Meydani" gemeinsam mit anderen Gruppen vom Sommer bis zum Herbst 2020 regelmäßige Live-acts gegen Rassismus an der Keupstraße, um den Ort schon jetzt zu einem Platz für Alle zu machen. Namhafte Künstler*innen, wie Esther Dischereit, Dogan Akhanli, Henning May, Tice, Ester Bejerano und Microphone Mafia sowie Fatih Çevikkollu traten dort auf. So blieb das Thema vor der Kommunalwahl 2020 im Gespräch. Aus gut unterrichteten Kreisen erfuhr die Initiative wenig später, dass die Eigentümer des umkämpften Grundstücks in Verkaufsverhandlungen mit der Düsseldorfer Gentes Gruppe stünden. Für diese Insiderinformation interessierten sich nun auch der Kölner Express, der schon über den Konflikt berichtet hatte. Ein Anruf eines Reporters veranlasste das OB-Büro, aktiv zu werden. Schließlich stand die Behauptung im Raum, Henriette Reker, die kurz vor der Stichwahl stand, habe ihr Versprechen gegenüber der IG Keupstraße gebrochen, das Gelände zu kaufen. Sie beraumte eilig eine Besprechung mit Vertreter*innen von Initiativen an, bei der Reker die Verwirklichung des Mahnmals am gewünschten Ort zusagte. Doch in der anschließenden Pressemitteilung war davon keine Rede mehr. Dann passierte erstmal nichts.
Aus der Presse war Anfang Dezember 2020 zu erfahren, dass die neue Eigentümerin, die „Gentes Gruppe“ eine Bauvoranfrage für einen konkreten Entwurf für das Mahnmal zur Abstimmung in die Bezirksvertretung Mülheim vorlegen würde. Das Mahnmal soll demnach am vorgesehenen Platz gegenüber dem Eingang zur Keupstraße entstehen, auf 576 Quadratmetern. Ganz offensichtlich sollte im Eiltempo und ohne Einbeziehung der Öffentlichkeit etwas beschlossen werden, um den Konflikt, der immer höhere Wellen schlug, vom Tisch zu bekommen. Es war ein Kompromiss. Allerdings spiegelt er die politischen Kräfteverhältnisse in der Stadt wider, in der die Partikularinteressen von Investoren Vorrang haben.
Die Erinnerungspolitik in der postmigrantischen Gesellschaft lebt davon, dass viele Menschen sich auf eine Debatte über Rassismus einlassen. Es ist ersichtlich, dass sich die Betroffenen von rassistischer Gewalt die Erinnerung selbst aneignen müssen und dabei auf solidarische Menschen in der Stadtgesellschaft angewiesen sind. Der Platz an der Keupstraße, an dem das Mahnmal entstehen wird, ist schon jetzt ein wichtiger Treffpunkt für die antirassistische und antifaschistische Szene Kölns. So wird die offizielle Erinnerungskultur von einer sehr aktiven migrantischen, antirassistischen und antifaschistischen Minderheit herausgefordert.
„Meine beiden Kinder sind in Deutschland geboren“, sagt der Kuaför von der Keupstraße. „Sie werden hier ihr Leben leben. Ich hoffe, dass ihnen so etwas nie passieren wird und wenn dies der Fall ist, sollte niemand mit Vorurteilen konfrontiert werden! Ich möchte nicht als Mafiosi oder Terrorist angesehen werden. Was das Denkmal betrifft, denke ich, dass es eine gute Sache ist. Vergesst nicht! Es soll immer im Gedächtnis bleiben, es soll ein Fragezeichen sein! Die nächste Generation muss ihre Rechte einfordern! Wir hatten niemanden, der uns am Arm hielt und unterstützte!“
Wie nah Vergessen und Erinnern beieinander liegen zeigt die Situation der Jugendlichen im dem Viertel, die nach dem Anschlag geboren wurden. Sozialarbeiter*innen berichten, dass sie nichts über den NSU wussten und erst durch ein Erinnerungsprojekt in der Jugendeinrichtung davon erfuhren. In den Schulen sei der NSU kein Thema. Insofern kann das virtuelle Archiv über die Geschichte der Straße und die Kämpfe gegen Rassismus, das am Mahnmal vom Smartphone abrufbar sein wird, diese Lücke füllen und so eine emanzipatorische Wirkung entfalten. Das Mahnmal bietet nun die Chance, der jahrelangen Stigmatisierung der Keupstraße zumindest symbolisch etwas entgegenzusetzen. Es ist nämlich zu bezweifeln, dass die Gesellschaft wirklich die Lektion verstanden hat. Denn die angeeigneten Orte, wo Menschen arbeiten oder sich einfach treffen, die als die anderen wahrgenommen und stigmatisiert werden, werden immer wieder angegriffen, zuletzt in Halle und Hanau. Trotzdem macht dieser kleine Erfolg im Kampf gegen Rassismus Mut oder wie Mitat Özdemir aus der Keupstraße sagt: “Das Mahnmal wird unser Symbol sein. Ich habe einen Traum, über den ich hier immer gesprochen habe. Dieses Denkmal muss kommen und es wird Menschen geben, die eines Tages Busse mieten, um es hier besuchen zu können.“